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Soziale Netzwerke und die Krise ‒ Zeit für ein #neuessozial?

Mit den sozialen Medien ist es ein bisschen wie mit Schokolade. Hätten wir sie nicht, würde(n) sie uns vermutlich auch nicht fehlen. Und trotzdem kommt es regelmäßig zu Heißhungerattacken und die Beherrschung fällt schwer. Also stürmen wir das digitale Süßigkeitenregal und scrollen uns durch Facebook, Snapchat & Co. für die schnelle Social-Media-Befriedigung. Sie haben es schon gemerkt: Der Vergleich hinkt. Denn würden wir uns Schokolade in der Weise einverleiben wie Social Media, würde der Hosenbund nicht erst nach Weihnachten kneifen. Der Konsum von „snackable content“ und mit ihm das Liken, Teilen und Posten stieg in den sozialen Netzwerken mit Beginn der Corona-Krise deutlich an ‒ und zwar, wen wundert’s, in dem Moment, als das Leben der meisten von jetzt auf gleich stillstand. Im April schon stellte dies der Branchenverband bitkom auf Grundlage einer Nutzerbefragung fest.

Mit den weltweiten Lockdowns stiegen aber nicht nur die Interaktionen in den sozialen Netzwerken. Es schien, als würden Nutzer weltweit dazu beitragen, dass diese Plattformen nun endlich den erhofften Schub in eine Richtung erhielten, die das Etikett „sozial“ tatsächlich verdienten. „Huch“, schrieb Sascha Lobo dann auch bereits am 11. März in seiner Netzwelt-Kolumne, „hier gibt es ja doch Empathie, Solidarität und Menschlichkeit?“.

Es schien so. Da katapultierte sich nicht nur eine sportliche Challenge nach der anderen durch die Netzwerke. Wir erinnern uns an die #toiletpaperchallenge, die Jugendfußball-Trainer von Helsinki bis Punta Arenas in Entzücken versetzte. Weitaus bewegender war noch die Welle der unmittelbaren Solidarität, die wochenlang durch die sozialen Netzwerke brandete. Im Handumdrehen wurden Crowdfunding-Kampagnen und Gutscheinaktionen für die darbende Gastronomie ins Netz gestellt, unter dem Hashtag #supportyourlocal riefen Nutzer zur Unterstützung heimischer Lieblingsgeschäfte auf. Anleitungen zum Maskennähen wurden miteinander geteilt, das Erledigen von Einkäufen angeboten. Spontane regionale Initiativen wie #nordbayernhilft haben auf Facebook bis heute Bestand. Hashtags wie #nachbarschaftshilfe #coronahilfe #coronasolidaritaet wurden zum solidarischen Erkennungszeichen im Netz.

Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die negativen Auswüchse in den sozialen Netzwerken weiterhin gab: Hass und Hetze ‒ gegen die unermüdlich und entschieden vorzugehen ist, per Gesetz und mit Zivilcourage ‒, daneben wilde Verschwörungstheorien, Meinungs- und Empörungsgeschrei in Dauerschleife. All dies war während der akuten Krise nicht etwa plötzlich aus den Spalten verschwunden. Es schien aber, als sei es für eine ganze Weile in den Hintergrund getreten und Solidarität an dessen Stelle. Die „Gleichzeitigkeit der Pandemie“ habe eine „digitale Netzwärme ausgelöst“, stellte Lobo fest.

Zu diesen Wärmeerzeugern gehörten auch die kulturellen Akteure. Ob beim Aufruf zum gemeinsamen Balkon-Musizieren oder zur Online-Lesung, all dies war in den Hochzeiten der Krise eine willkommene Abwechslung. Digitale Vorlesestunden kommunaler Bibliotheken verhalfen gestressten Eltern zur wohlverdienten Kaffeepause und gestreamte Corona-Konzerte wie die des Pianisten Igor Levit schufen Gänsehautatmosphäre bei Zigtausenden Menschen von Wien über Dublin bis nach Washington. Auch die Szene vor Ort setzte viele gute Akzente. Umso beschämender, dass genau diese Kulturbranche, berufliche Heimat vieler Solopreneure, zu einem der großen Verlierer der Krise wurde ‒ indem finanzielle Rettungsschirme entweder gar nicht erst aufgespannt oder vor der Nase wieder zugeklappt wurden. Auch hier waren es die sozialen Netzwerke, über die der erst leise Aufschrei der Kulturschaffenden zunehmend lauter in die Netzwelt hinausgetragen wurde.

Gegen solche Tatenlosigkeit hilft Handeln, so wie gegen (soziale) Kälte Wärme hilft. Und bei der nächsten Süßhungerattacke vielleicht die Erkenntnis, dass Schokolade durchaus wertvolle Inhaltsstoffe hat. Erinnern wir uns daran, wenn wir das nächste Mal in den digitalen sozialen Netzwerken unterwegs sind, um mit Ideen, Taten und gegenseitiger Wertschätzung das Netz zu einem besseren Ort zu machen.

Gastbeitrag fĂĽr das NĂĽrnberg Digital Festival Remote, 2020

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